Sonntag, 27. April 2014

Russland und seine Märchen

Eine gute Freundin aus Schultagen liebte den obligatorischen Russischunterricht an der Waldorfschule. Ich habe dieser Sprache nicht wirklich etwas abgewinnen können und doch liebte ich die Märchen und Sagen. Die Russischlehrerin erzählte uns in der Unterstufe jede Stunde als Abschluss eine Geschichte.
Einige (typische Waldorfeltern) fanden die Storys ein wenig zu brutal. Vorallem wenn die Baba Yaga auftauchte.
Ja ja, die Hexe die gerne Menschen (vorallem weibliche) frisst.
Trotzdem werde ich den Verdacht nicht los, das die Grimmschen Märchen nur unwesentlich weniger grausam sind.
Aber zurück zu den russischen Märchen: Ich liebte sie.  Vorallem dieses ließe mich schmunzel:

Der Axtbrei

Ein Soldat, der lange Zeit dem Zaren gedient hatte, wanderte einst seinem Heimatdorf zu. Die Füße waren ihm müd vom weiten Weg, sein Magen knurrte. An der ersten Hütte eines Dorfes klopfte er an.

"Lasst einen Wandersmann bei euch ausruhen", bat er. Eine alte Frau öffnete die Tür. "Tritt ein, Soldat", sagte sie. "Hast du nicht was zu essen, Bäuerin?" Die Frau hatte zwar Keller und Kasten voll, doch war sie geizig von Gemüt und wollte dem Soldaten nichts geben. Mit weinerlicher Stimme erwiderte sie: "Ach, lieber Mann, ich habe selber heut noch keinen Bissen im Mund gehabt, ich hab' nichts!" "Das ist schlimm, da kann man nichts machen", entgegnete der Soldat.

Doch da gewahrte er eine Axt ohne Stiel, die unter der Küchenbank lag. "Wenn man sonst nichts hat, kann man auch aus einer Axt Brei kochen."

Die Bäuerin schlug vor Verwunderung die Hände zusammen. "Aus einer Axt?! So was habe ich noch nie gehört." "Gleich zeig' ich's dir. Gib einen Topf her."

Die Alte brachte einen Topf. Der Soldat wusch die Axt schön sauber, legte sie in den Topf, goss Wasser hinein und stellte ihn aufs Feuer.

Mit weitoffnen Augen sah ihm die Bäuerin zu. Der Soldat nahm seinen Löffel aus dem Ranzen, rührte im Topf um und kostete ab. "Nun, wie wird's?" fragte die Alte. "Bald ist's fertig", sagte der Soldat. "Nur schade, dass kein Salz dran ist."

"Salz hab' ich hier, nimm." Der Soldat salzte und kostete wieder. "Ein bisschen Graupen müssten noch hinein", sagte er. Die Alte brachte ein Säckchen Graupen aus der Kammer. "Nimm nur, soviel du brauchst."

Der Soldat ließ Axt, Wasser und Graupen kochen und rührte von Zeit zu Zeit um. Dann schmeckte er wieder ab. Die Alte starrte ihn neugierig an.

"Gut ist der Brei", lobte der Soldat. "Ein bisschen Fett noch, und man könnte sich die Finger ablecken." Die Bäuerin hatte auch Fett im Spind.

Sie taten eine große Menge davon in den Topf. "Nun greif zu, Bäuerin." Der Soldat und die Bäuerin löffelten den Brei, und er mundete ihnen vortrefflich. "Hätt' nie gedacht, dass man aus einer Axt so einen schmackhaften Brei kochen könnte", wunderte sich die Alte. Der Soldat aber führte emsig den Löffel zum Mund und schmunzelte in seinen Bart.

Dieses Märchen erinnert mich ein wenig an das Frau Holle Märchen:


Der Lohn der Stieftochter und der Haustochter

Es war einmal eine Mutter, die hatte eine eigne Tochter und eine Stieftochter. Die Mutter der Stieftochter war gestorben, das Waisenkind aber wurde von Mutter und Tochter gehaßt und sehr geplagt.
Einmal schickte die Stiefmutter das Waisenmädchen aus, am Brunnenrande zu spinnen. Beim Spinnen fiel aber des Mädchens Spinnrocken in den Brunnen. Das Mädchen sprang ihm nach, aber sie fand den Spinnrocken nicht. Sie ging deshalb weiter, ihn zu suchen.
Eine Kuh kam dem Waisenmädchen entgegen, einen Melkkübel an ihren Hörnern, und sprach:
»Schönes Mädchen, schönes Mädchen, melk mich! Die Hälfte der Milch gieß auf die Erde, die andre in den Melkkübel an meinen Hörnern!«
Das Waisenmädchen melkte die Kuh, goß die halbe Milch auf die Erde und die andere Hälfte in den Melkkübel an den Hörnern der Kuh.
Dann ging sie weiter. Ein Widder kam ihr entgegen mit einer Schere an den Hörnern, der sprach:
»Schönes Mädchen, schönes Mädchen! Scher mich! Die Hälfte der Wolle wirf auf die Erde, die andre Hälfte bind mir an den Hals!« Das Mädchen schor den Widder, warf die halbe Wolle auf die Erde und hängte die andere Hälfte dem Widder an den Hals.
Dann ging sie weiter. Ein Apfelbaum stand am Wege, der sprach: »Schönes Mädchen, schönes Mädchen! Schüttle mich! Es ist mir zu schwer, mich unter der Last der Äpfel zu beugen! Was auf die Erde fällt, das soll liegenbleiben; was dir auf den Kopf fällt, das nimm du dir!«
Das Waisenmädchen schüttelte die Äpfel. Was ihr auf den Kopf fiel, nahm sie sich, was auf die Erde fiel, blieb liegen.
Sie ging weiter. Ein Ofen voll heißer Brote stand am Wege. Die Brote sprachen:
»Schönes Mädchen, schönes Mädchen! Nimm uns aus dem Ofen heraus, wir haben es hier zu warm!«
Das Waisenmädchen nahm die Brote ohne Schaufel heraus und ging wieder weiter.
Eine Badstube stand am Wege. Darin lebte ein alter Mann. Der Alte sprach: »Schönes Mädchen, schönes Mädchen! Bad mich, es ist mir zu schwer, so schmutzig zu sein!«
Das Waisenmädchen fragte: »Womit soll ich den Ofen heizen?«
Der Alte antwortete: »Sammle Holzpflöcke und Krähenmist und heiz damit.«
Das Waisenmädchen holte aus dem Walde Reisig und heizte den Ofen recht heiß. Dann fragte sie: »Wo soll ich das Badewasser hernehmen?«
Der Alte antwortete: »Unter der Korndarre steht eine weiße Stute. Laß sie in den Zuber pissen!«
Das Waisenmädchen suchte aber einen Brunnen auf und holte daraus Wasser. Dann fragte sie: »Wo soll ich einen Badequast hernehmen?«
Der Alte antwortete: »Unter der Korndarre steht eine weiße Stute. Schneid ihr den Schwanz ab und mach daraus einen Badequast!«
Das Waisenmädchen ging aber in den Wald und machte einen Badequast aus Birkenreisern. Dann fragte sie den alten Mann: »Wo soll ich Seife hernehmen?«
Der Alte antwortete: »Nimm einen Badstubenstein und scheure mich damit!«
Das Waisenmädchen holte aus dem Dorfe Seife und quästete und wusch dann den alten Mann. Nach dem Bade sagte der Alte: »Dank dir, gutes Kind, daß du mich gebadet hast! Jetzt bist du auch deines Lohnes wert. Hier, da hast du eine Schachtel, worin sich dein Lohn befindet. Zu Hause ruf deine Familie zusammen und mach dann die Schachtel auf!«
Der Alte führte das Waisenmädchen auf die Oberfläche der Erde zurück. Es kehrte heim und rief die Familie zusammen und öffnete die Schachtel. In der Schachtel befand sich eine Menge Gold und Edelsteine.
Die Haustochter war auf das Glück des Waisenmädchens neidisch und ging ebenfalls an den Rand des Brunnens spinnen. Sie warf absichtlich ihren Spinnrocken in den Brunnen hinein und sprang selber nach. Den Spinnrocken fand sie wieder, ging aber dennoch weiter.
Eine Kuh kam der Haustochter entgegen, einen Melkkübel an ihren Hörnern. Sie sprach:
»Schönes Mädchen, schönes Mädchen, melk mich! Die eine Hälfte der Milch gieß auf die Erde, die andre in den Melkkübel an meinen Hörnern!«
Die Haustochter aber antwortete: »Ich habe keine Zeit! Ich gehe, Gold und Edelsteine zu holen!«
Sie ging weiter. Ein Widder kam ihr entgegen mit einer Schere an den Hörnern, der sprach: »Schönes Mädchen, schönes Mädchen, scher mich! Die Hälfte der Wolle leg auf die Erde, die andere Hälfte bind mir an den Hals!«
Die Haustochter antwortete: »Ich habe keine Zeit! Ich gehe, Gold und Edelsteine zu holen!«
Sie ging weiter. Ein Apfelbaum stand am Wege, der sprach: »Schönes Mädchen, schönes Mädchen, schüttle mich! Es ist mir schwer, mich unter der Last der Äpfel zu beugen! Was auf die Erde fällt, das soll liegenbleiben; was dir auf den Kopf fällt, das nimm du dir!«
Die Haustochter antwortete: »Ich habe keine Zeit! Ich gehe, Gold und Edelsteine zu holen!«
Sie ging immer weiter. Ein Ofen mit heißen Broten stand am Wege. Die Brote sprachen: »Schönes Mädchen, schönes Mädchen, nimm uns aus dem Ofen heraus, wir haben es hier zu warm!«
Die Haustochter antwortete: »Ich habe keine Zeit! Ich gehe, Gold und Edelsteine zu holen!«
Sie ging wieder weiter. Eine Badstube stand am Wege. Darin lebte ein alter Mann. Der sprach: »Schönes Mädchen, schönes Mädchen, bad mich, es ist mir zu schwer, so schmutzig zu sein!«
Die Haustochter sagte: »Hier ist kein Reisig noch sonst etwas, womit soll ich denn den Ofen heizen?«
Der Alte antwortete: »Sammle Holzpflöcke und Krähenmist und heiz damit!«
Die Haustochter sammelte Holzpflöcke und Krähenmist und heizte damit den Ofen. Dann fragte sie: »Wo soll ich das Badewasser hernehmen?«
Der Alte antwortete: »Unter der Korndarre steht eine weiße Stute. Laß sie in den Zuber pissen!«
Die Haustochter machte es so. Dann fragte sie: »Wo soll ich einen Badequast hernehmen?«
Der Alte antwortete: »Unter der Korndarre steht eine weiße Stute. Schneid ihr den Schwanz ab und mach daraus einen Badequast!«
Die Haustochter schnitt dem Pferde wirklich den Schwanz ab. Dann fragte sie wieder: »Wo soll ich Seife hernehmen?«
Der Alte antwortete: »Nimm einen Badstubenstein und scheure mich damit!«
Die Haustochter quästete den alten Mann mit dem Stutenschwanz und scheuerte ihn mit dem Badstubenstein.
Darauf sagte der Alte:
»Danke dir, gutes Kind, daß du mich gebadet hast! Jetzt bist du auch deines Lohnes wert. Hier, da hast du eine Schachtel, worin sich dein Lohn befindet. Zu Hause ruf deine Familie zusammen und mach dann die Schachtel auf!«
Der Alte führte die Haustochter auf die Oberfläche der Erde zurück. Die Haustochter kehrte heim und rief ihre ganze Familie zusammen. Dann machte sie die Schachtel auf. Die Schachtel aber war voll feuriger Kohlen. Und die Kohlen füllten das ganze Haus an und töteten die Haustochter und ihre Familie. Das Waisenmädchen blieb jedoch am Leben, denn man hatte sie überhaupt nicht zum Öffnen der Schachtel gerufen.


[Estland: August von Löwis of Menar: Finnische und estnische Märchen] 
 
 

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